Soziale Normen und abweichendes Verhalten

Funktionale Einschränkung:  Situationsunangemessenes Verhalten gilt weithin als Kernproblem der Eingliederung von Psychotikern. Für unsere Werkstatt-Klientel bedeutet das nach meiner Erfahrung, dass die Beziehungen am Arbeitsplatz durch Grenzüberschreitungen infrage gestellt oder gesprengt werden: Von den Kranken geht typischerweise ein Beziehungs-Druck aus. Mitakteure werden oft subtil in die Welt des Kranken eingeflochten. Die Kranken verteilen unangemessene Rollen und verkennen ihre eigene. Ihre Umwelt gewinnt für psychisch Kranke ungerechtfertigte Bedeutungen. Sie machen unterschwellige Unterstellungen, fordern Gefühlsreaktionen heraus, provozieren Schuldgefühle oder suchen Schuld, wo keine ist, fordern die Aufspaltung von Gut und Böse, beschuldigen andere als Verfolger, erpressen Zuwendung, bis hin zu (versteckten) Suiziddrohungen usw. „Psychische Symptome sind [...] meist offensiv.“[1]

 

Coach:  Die Profis entlasten und ergänzen die Reparaturmechanismen der Alltagswelt, wenn die Interaktion durch unangemessene Verhaltensweisen zu scheitern droht:

Die Profis steuern Situationsdefinitionen bei, ergänzen, korrigieren, revidieren die Problemwahrnehmung.
Sie entlasten von Handlungsdruck durch Ausgrenzung von Problemen aus der Alltagswelt. Sie sind Ansprechpartner für alle Probleme des Rehabilitanden.
Sie schützen Betriebsmitarbeiter vor Beziehungsüberlastung, dem Ausnutzen von Hilfsbereitschaft und der Entstehung eines „Helfersyndroms“.
Sie modifizieren das System der positiven und negativen Sanktionierungen, übernehmen selbst einen Teil der sozialen Kontrolle.
Sie führen strukturierende Elemente in den Alltag ein, da wo die selbstbestimmte Arbeitsorganisation scheitert.
Sie motivieren zum Ausbau der Stärken und versuchen die Bedeutung von Handicaps oder Symptomen alltagspraktisch zu verringern.
Sie nehmen dabei selbst eine dezidiert nicht-therapeutische Haltung ein und machen die „subjektive Authentizität“ psychotischer Erfahrungen kenntlich.

 

Verhaltenserwartungen:  Mit dieser professionellen Unterstützung toleriert das Firmenpersonal die beschriebenen Residualsymptome in überraschendem Ausmaß.

Relativ gering sind die Toleranzspielräume bei den Arbeitstugenden: Pünktlichkeit, Einhaltung der Pausen, ordentliche Krankmeldung, Verbleib im Betrieb während der Arbeitszeit, Sauberkeit und Ordnung, Sorgfalt und Genauigkeit der Arbeit, vollständige Arbeitsausführung, Zuverlässigkeit, Zusammenarbeit, Eingliederung in die Hierarchie usw.

Der Tugendbegriff verweist auf die moralische Dimension, auf die Verinnerlichung und damit auch auf die starke informelle Bedeutung dieser Regeln. Es geht um die Disziplin, die jedem Arbeitnehmer abverlangt wird. Selbst-Disziplinierung ist eine der Grundvoraussetzungen moderner Sozialformen.[2]

Ein psychisch kranker Mensch muss aber für sein ganzes Leben ein höheres Maß an Disziplin aufbringen.[3]

Der Betrieb stellt hierfür den sachlichen Rahmen zur Verfügung. Und der Berufsalltag wirkt als beständiger Sozialisierungsstrom. Die Kollegen im Betrieb leben fortwährend die Arbeitnehmerrolle vor. Betreuer und Belegschaft machen alltägliche Leistungsanforderungen geltend oder nehmen sie zurück. Kooperationsprobleme werden alltäglich bereinigt, und zwar zwischen allen Mitarbeitern. Zum Teil können offene Verhaltensprinzipien in konkrete Verhaltensanweisungen übersetzt werden, um fehlende mentale Strukturen durch äußere zu ersetzen und die Kontrolle zu verstärken.[4]

Die Arbeitswelt ist vielleicht sogar das ideale Trainingsfeld für die Interaktionsfähigkeit, soweit die alltägliche Zusammenarbeit immer wieder anschaulich auf ihre sachliche Grundlage zurückgeführt werden kann. Sie bietet nicht das „Problemmaterial“, das private, familiäre Beziehungen erzwingen. Eine sachliche, d.h. emotional entlastete Zusammenarbeit erleichtert schizophrenen Menschen die Interaktion, nach dem Prinzip der „low expressed emotions“[5]. Sie ermöglicht Erfahrung mit Krankheitssymptomen in einer begrenzten Öffentlichkeit.

zurück  | 16/18 |  weiter ...

 

 

 

[1]

Finzen 2009: S. 159

In seiner Arbeit über „schizophrene Krisen“ (die als Dissertation am philosophischen Institut der TU Darmstadt entstanden ist) analysiert der Darmstädter Psychiater Michael Huppertz die Erkrankung als Aktivität (ausdrücklich abgegrenzt von den vorherrschenden „Defizitmodellen“ S. 11 ff. u.a.). Besonders interessant ist in unserem Zusammenhang, dass seine Analyseebene - die Veränderung der Weltbezüge in der schizophrenen Krise - an „lebensweltliche“ Prozesse anschließt. (Huppertz 2000)

[2]

Sie hat auch eine erhebliche Bedeutung für die Entstehung der modernen Psychiatrie. Michael Foucault zeigt dies in einer nachlesenswerten Vorlesungsreihe (Foucault 1974).

[3]

Beispielsweise um morgens aufzustehen und eine „Maßnahme“ zu besuchen, und zwar trotz geringer Erfolgschancen, geringem Lohn, geringem Status und trotz der Nebenwirkungen der verordneten Medikamente...

[4]

höhere Kontakthäufigkeit / Auflagen / zusätzliche Kontrollpunkte im Arbeitsprozess

[5]

High-Expressed-Emotions bedeutet die emotionale Überhöhung der Interaktion in Richtung Überengagement oder Feindseligkeit - mit einem ungünstigen Einfluss auf die Rückfallquote der Schizophrenie. http://de.wikipedia.org/wiki/Expressed-Emotion-Konzept