Die berufliche Rehabilitation in Werkstätten für behinderte Menschen ist im § 56 SGB 9 verankert. Sie betrifft (1.) ein besonderes Problemfeld, erfordert (2.) spezielle Beiträge der beteiligten Akteure und stellt (3.) komplexe Anforderungen an die Rollen-Abgrenzungen in der Werkstatt.
Im Jargon der Werkstätten ist „Rehabilitation“ ein Sammelbegriff für die Arbeitsfelder der beruflichen Bildung und der Pädagogik, die in der Regel als Bereiche konzipiert werden: Der pädagogische Bereich ergänzt den Arbeitsbereich und der Berufsbildungs-Bereich geht ihm voraus. Postulierte Zielkonflikte trennen die Bereiche. Arbeit und Rehabilitation erscheinen im vorherrschenden Sprachgebrauch der Werkstätten als Gegensätze.[1]
Im Rahmen ihres Doppelauftrages werden spezielle pädagogische Leistungen von den Werkstätten erwartet. Ihre Klientel benötigt persönlichkeitsbildende Angebote, die über ein ganzes Berufsleben als arbeitsbegleitende Maßnahmen potentiell für alle Werkstatt-Beschäftigten organisiert werden.
Für die (Fach-)Öffentlichkeit ist gelungene Rehabilitation gleichbedeutend mit der Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt. Mit ihrer Präsentation als Reha-Einrichtung (ohne den geforderten Erfolg) bieten die Werkstätten der öffentlichen Kritik eine unbegründete Angriffsfläche. Eine Präzisierung des Reha-Begriffs ist erforderlich.
Tatsächlich sind Arbeit und Rehabilitation für die Werkstatt-Klientel verbunden. Ihre Rehabilitation bezieht sich nicht alleine (oft nicht einmal in erster Linie) auf den technischen Arbeitsprozess, sondern auf die sozial-integrativen Prozesse in den beruflichen Alltagswelten. Das Feld der beruflichen Rehabilitation umfasst das der sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz. Reha-Maßnahmen zur Befähigung im Arbeitsprozess, ohne die gleichzeitige Befähigung zur Zusammenarbeit, scheitern an der Werkstatt-Klientel.
Das Reha-Angebot der Werkstätten zielt auf eine bestimmte Form der Arbeit, auf erwerbsförmige Arbeit (nicht Hausarbeit, nicht Hobby). Einige Werkstätten bieten Varianten des Supported Employment an und erschließen damit die „normale“ berufliche Alltagswelt als Problemfeld.[2]
Wenn man Rehabilitation als sozialen Prozess versteht, kann man spezifische Beiträge verschiedener Akteure unterscheiden.
1.) Als Maßnahme zur Wiedereingliederung ist „Rehabilitation“ eine Leistung von Experten, auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Das gilt analog zur Therapie, für die man einen Arzt oder Facharzt aufsucht. Rehabilitation ist eine Leistung, die nachrangig und nach der medizinischen Behandlung, nur dann angeboten wird, wenn die Betroffenen dazu befähigt werden sollen, ein fortbestehendes Handikap zu bewältigen. Man darf auch von einer Reha-Einrichtung eine individuelle Förderung auf Grundlage fachlicher Standards erwarten. Das bedeutet für die Werkstätten, dass sie sich Expertenwissen aneignen müssen. Hierzu gehören beispielsweise Fallsupervision, regelmäßige Schulungen und die Qualifizierung des Personals (wie die Ausbildung der Gruppenleiter zu „Fachkräften für Arbeits- und Berufsförderung“). Zur Rehabilitation im speziellen Arbeitsfeld der Werkstätten gibt es tatsächlich kaum wissenschaftliches Material. Und die Werkstätten selbst leisten (zumindest in einzelnen Punkten) Pionierarbeit. Für deren Auswertung und Weitergabe bräuchte es eine wissenschaftliche Sichtungsinstanz.
2.) Wenn man die Analogie zur Medizin fortführt, findet man die Unterscheidung von Therapie und Heilung. Heilung wäre das, was mit dem Patienten geschieht, wenn die Therapie erfolgreich ist. Als Rehabilitation bezeichnet man ebenso die Veränderung, die der Betroffene durchläuft. Maßnahme und Ergebnis nennt man beides „Rehabilitation“. Rehabilitation ist erstens die Dienstleistung von Experten und zweitens die Veränderung oder Befähigung oder Stabilisierung eines behinderten Menschen. Daran hat dieser behinderte Mensch selbst einen entscheidenden Anteil. Er muss sich in eine behinderungsgerechte berufliche Sozialisation einfinden, seine Sozialisation neu justieren. Seine Fähigkeiten, seine Ressourcen, seine Motivation, seine Disziplin sind das Fundament einer erfolgreichen Rehabilitation.
3.) Es kommt noch eine Bedeutung hinzu, für die es keine Analogie in der Medizin gibt. Rehabilitation ist nämlich auch eine Leistung der sozialen Umwelt. „Rehabilitierung“ bedeutet die Wiedereinsetzung der Ehre, die Aufhebung einer ungerechtfertigten Ausschließung. Zu ihr können Toleranzleistungen in der Alltagswelt gehören und die Anpassung an die Bedürfnisse behinderter Menschen. Den Rehabilitationsbeitrag der sozialen Umwelt beschreibt schon der britische Reformpsychiater Douglas Bennet.[3] Während für Körperbehinderte die Lebensumwelt barrierefrei gestaltet werden muss, benötigen psychisch Kranke eine soziale Umwelt, die mit abweichendem Verhalten angemessen umgehen kann.
Wenn „Rehabilitation“ bedeutet, einen biografischen Einschnitt zu überwinden, dann gehört die berufliche Förderung bei frühkindlichen oder angeborenen Beeinträchtigungen, nicht zur Rehabilitation. Sie ist vor allem ein Arbeitsfeld der Werkstätten für psychisch erkrankte Menschen. Menschen mit einer geistigen Behinderung stehen beim Eintritt in die Werkstatt typischerweise vor der Aufgabe der primären beruflichen Sozialisation – analog zu einer Lehrlings-Rolle. Die verschiedenen sozialen Rollen der Klientel können individuell kombiniert sein.[4]
Überdies kann die soziale Rolle als Rehabilitand*in nicht über ein ganzes Berufsleben in Anspruch genommen werden. Die Praxis zeigt, dass erfolgreiche Reha-Verläufe im Durchschnitt mehr als zwei Jahre benötigen.[5] Die entsprechende soziale Rolle lässt sich zwar für einige Jahre über die zweijährige Phase der „Berufsbildung“ hinaus aufrechterhalten. Das faktische Bleiberecht entlastet die Rehabilitation in der Werkstatt vom Zeitdruck. Für ihre Kernklientel bieten die Werkstätten spätestens im Arbeitsbereich ein anderes Rollenkonzept an: das des Beschäftigten, in einem arbeitnehmerähnlichen Status. Eine unspezifische „Behinderten-Rolle“ lässt sich hieraus für keine der Zielgruppen konstruieren.
Die Werkstatt-Klientel ist also in mehrere institutionelle Rollen einbezogen, die eine zeitliche oder sogar eine biographische Dimension haben.[6] Wie soziale Rollen in Werkstätten gelebt werden, betrifft die Reha-Angebote selbst, mindestens insofern die Rollenperformanz ein typisches Problem der psychisch kranken Klientel ist.
Zuletzt überarbeitet am 29. Januar 2023
Reinhard Saal
Alle angegebenen Internet-Links wurden im Januar 2023 geprüft.
Bendel et al. 2015: Alexander Bendel, Caroline Richter, Frank Richter, Entgelt und Entgeltordnungen in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Etablierung eines wirtschafts- und sozialpolitischen Diskurses. Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung. In: WISO Diskurs Juli 2015, Bonn. http://library.fes.de/pdf-files/wiso/11514.pdf
Bennett 1975: Douglas Bennett, Einige Bemerkungen zur Rehabilitation psychisch und geistig Behinderter in Großbritannien. In: BT-Drucksache 7/4201. Anhang zum Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland - Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung. Bonn: Deutscher Bundestag 1975, S. 797 - 827; http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/07/042/0704201.pdf
BT-Drs. 7/3999: Bundestag Drucksache 7/3999, Grundsätze zur Konzeption der Werkstatt für Behinderte. Bonn 1974, https://dserver.bundestag.de/btd/07/039/0703999.pdf
Saal 2013: Reinhard Saal, Referat zur Werkstätten-Messe 2013: „Rehabilitation in der beruflichen Alltagswelt“. Vortragsmanuskript, Nürnberg 2013 Saal_2013_Rehabilitation_in_der_beruflichen_Alltagswelt.pdf
Saal 2015: Reinhard Saal, Werkstätten und ihr Entgelt in der Kritik. Eine Rezension zum WISO Diskurs Juli 2015 S. 2; Saal_2015_Werkstaetten_und_ihr_Entgelt_in_der_Kritik.htm
Saal 2018: Reinhard Saal, Rehabilitation in der beruflichen Alltagswelt. Manuskript für das Eröffnungsreferat zur Jahrestagung von 53° NORD am 8. und 9. März 2018
http://www.denksaal.de/handicap/referate/53grad-nord_2018/
Thesing 2015: Stefan Thesing, Berufliche Bildung im Zielkonflikt – Umsetzungsbedingungen des gesetzlichen Auftrags der WfbM. Dissertationsschrift im Fach Erziehungswissenschaft, Eingereicht an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. 2015 http://ediss.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2017/8379/pdf/Dissertation.pdf
Reinhard Saal, Januar 2023
Anmerkungen:
[1] Thesing (2015 S. 52) bemerkt ausdrücklich, dass »im Werkstättenjargon der gesamte Auftragsbereich der beruflichen Bildung und des pädagogischen Handelns in der WfbM häufig kurz als 'Reha' bezeichnet (wird).« Arbeitsangebote und pädagogische Angebote werden in Image-Broschüren der Werkstätten vielfach getrennt präsentiert. Thesing übernimmt diese Trennung als grundlegenden »Zielkonflikt«.
Ein weiteres Beispiel, wie Experten der Trennung von Arbeit und Rehabilitation aufsitzen, ist der Versuch von Bendel et al. 2015 Funktionsabgrenzungen der Werkstätten vorzunehmen. Die Autoren definieren die Werkstätten »primär« als Reha-Einrichtungen (neben ihren Funktionen der »Inklusion und des unternehmerischen Wirtschaftshandelns«), ohne auch nur den Versuch zu machen, Rehabilitationsprozesse für die Werkstatt-Klientel zu fassen oder zu verstehen. Ihre zentrale Diagnose funktionaler Ambivalenzen ist nicht empirisch gestützt.
Zur Kritik an Bendel et al. 2015 siehe Saal 2015 S. 2
[2] In der Forschung wurde die Effektivität des Supported Employment schon in den 2000er-Jahren auch für den deutschsprachigen Raum bestätigt. Erreicht werden können damit jedoch nur behinderte Menschen, die bereits ein Mindestmaß an sozialer Kompetenz mitbringen. Hierzu Saal 2018.
[3] Bennett 1975, in der Psychiatrie-Enquête, insbesondere S. 798
[4] Ich plädiere für die Unterscheidung der beruflichen Eingliederung (Inklusion) vom »Rehabilitationsauftrag im Sinne einer Eingliederung in Arbeit und Gesellschaft« (BT-Drs. 7/3999, S. 7).
Douglas Bennett (1975, S. 797) verweist zusätzlich auf die Unterscheidung von Rehabilitation und Wiedereingliederung. Rehabilitation kann weniger sein als Wiedereingliederung oder umgekehrt.
Ein Vergleich der beiden Haupt-Zielgruppen von Werkstätten scheitert an deren Heterogenität. Die Angebotsdifferenzierung ist trotzdem und gerade deshalb sinnvoll und sollte vorangebracht werden. Ich möchte dies an anderer Stelle ausführlicher darlegen. Dazu gehört auch, dass ich geistig behinderte Menschen nicht grundsätzlich von Reha-Angeboten ausgeschlossen sehe.
[5] In der Reha-Werkstatt Dieburg wurden Arbeitsverträge durchschnittlich erst nach 30 Monaten erreicht (nach Daten der Reha-Werkstatt Dieburg von 1987 bis 2011, Saal 2013. S. 19).
[6] Die institutionelle Rolle beispielsweise eines Klinik-Klienten ist eindeutig die des Patienten. Um diese Rolle herum gibt es weitere soziale Rollen. Der Klinik-Sozialdienst hat keine Patienten, eher Klienten. Der Diät-Koch bezieht sich auf Patientengruppen. Die Medizintechniker sorgen für die angemessene Ausstattung. Die Putzfrau und der Hausmeister haben einen allgemeinen Dienstleistungsbezug.