Rehabilitation in Werkstätten

Berufliche Rehabilitation gehört zu den gesetzlich verankerten Aufgaben von Werkstätten für behinderte Menschen. Was „Rehabilitation“ in Werkstätten bedeutet und was Werkstätten tatsächlich zu leisten vermögen, wird in der Fachöffentlichkeit kaum thematisiert.

 

Zum Sprachgebrauch

Im Jargon der Werkstätten wird der Begriff der Rehabilitation unscharf verwendet, für alle pädagogischen Handlungsfelder, einschließlich der beruflichen Bildung. Folgt man den Selbstdarstellungen in ungezählten Image-Broschüren der Werkstätten, so benötigte deren Klientel spezielle pädagogische Leistungen, insbesondere „persönlichkeitsbildende Angebote“, die über ein ganzes Berufsleben als „arbeitsbegleitende Maßnahmen“ potentiell für alle Werkstatt-Beschäftigten organisiert werden.[1] Diese Angebote gehören zum so bezeichneten „Doppelauftrag“ der Werkstätten, der in separaten Leistungsbereichen dargestellt wird: Der „pädagogische Bereich“ ergänzt den „Arbeitsbereich“. Der „Berufsbildungs-Bereich“ geht ihm voraus. Postulierte Zielkonflikte trennen die Bereiche. Arbeit und Rehabilitation erscheinen in dieser Sichtweise als Gegensätze. Und in der Praxis bilden sich fachliche und personelle Reviere für Produktion und Sozialpädagogik.[2]

Mit ihrem Selbstverständnis als Reha-Einrichtung[3] (ohne den geforderten Erfolg) machen sich die Werkstätten zum Adressaten öffentlicher Kritik. Für die Öffentlichkeit ist gelungene Rehabilitation gleichbedeutend mit der Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt.

In folgenden Punkten möchte ich eine Präzisierung und Revision des Reha-Begriffs anregen: Berufliche Rehabilitation in Werkstätten betrifft ein eigentümliches Problemfeld (1), erfordert spezielle Beiträge der beteiligten Akteure (2) und stellt besondere Anforderungen an die Abgrenzung der Zielgruppen und der unterschiedlichen sozialen Rollen in der Werkstatt (3).

 

1. Das Feld und die Mittel der Rehabilitation

Tatsächlich sind Arbeit und Rehabilitation für die Werkstatt-Klientel verbunden. Ihre Rehabilitation bezieht sich nicht alleine (oft nicht einmal in erster Linie) auf den technischen Arbeitsprozess, sondern auf die sozial-integrativen Prozesse in den beruflichen Alltagswelten. Das Feld der beruflichen Rehabilitation umfasst das der sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz. Reha-Maßnahmen zur Befähigung im Arbeitsprozess, ohne die gleichzeitige Befähigung zur Zusammenarbeit, scheitern an den Bedürfnissen der Werkstatt-Klientel.

Das Reha-Angebot der Werkstätten zielt auf eine bestimmte Form der Arbeit, auf erwerbsförmige Arbeit (nicht Hausarbeit, nicht Hobby). Einige Werkstätten bieten Varianten des Supported Employment an und erschließen damit die „normale“ berufliche Alltagswelt als Problemfeld.[4]

 

2. Die Akteure der Rehabilitation

Wenn man Rehabilitation als sozialen Prozess versteht, kann man spezifische Beiträge verschiedener Akteure unterscheiden.

1.)    Als Maßnahme zur Wiedereingliederung ist „Rehabilitation“ eine Leistung von Experten, auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Das gilt analog zur Therapie, für die man einen Arzt oder Facharzt aufsucht.
Rehabilitation ist eine Leistung, die nachrangig und nach der medizinischen Behandlung, nur dann angeboten wird, wenn die Betroffenen dazu befähigt werden sollen, ein fortbestehendes Handikap zu bewältigen.
Man darf auch von einer Reha-Einrichtung eine individuelle Förderung auf Grundlage fachlicher Standards erwarten. Das bedeutet für die Werkstätten, dass sie sich Expertenwissen aneignen müssen. Hierzu gehören beispielsweise Fallsupervision, regelmäßige Schulungen und die Qualifizierung des Personals (wie die Ausbildung der Gruppenleiter zu „Fachkräften für Arbeits- und Berufsförderung“). Zur Rehabilitation im speziellen Arbeitsfeld der Werkstätten gibt es tatsächlich kaum wissenschaftliches Material. Und die Werkstätten selbst leisten (zumindest in einzelnen Punkten) Pionierarbeit. Für deren Auswertung und Weitergabe bräuchte es eine wissenschaftliche Sichtungsinstanz.

2.)    Wenn man die Analogie zur Medizin fortführt, findet man die Unterscheidung von Therapie und Heilung. Heilung wäre das, was mit dem Patienten geschieht, wenn die Therapie erfolgreich ist. Als Rehabilitation bezeichnet man ebenso die Veränderung, die der Betroffene durchläuft. Maßnahme und Ergebnis nennt man beides „Rehabilitation“. Rehabilitation ist erstens die Dienstleistung von Experten und zweitens die Veränderung oder Befähigung oder Stabilisierung eines behinderten Menschen. Daran hat dieser behinderte Mensch selbst einen entscheidenden Anteil. Er muss sich in eine behinderungsgerechte berufliche Sozialisation einfinden, seine Sozialisation neu justieren. Seine Fähigkeiten, seine Ressourcen, seine Motivation, seine Disziplin sind das Fundament einer erfolgreichen Rehabilitation.

3.)    Es kommt noch eine Bedeutung hinzu, für die es keine Analogie in der Medizin gibt. Rehabilitation ist nämlich auch eine Leistung der sozialen Umwelt. „Rehabilitierung“ bedeutet die Wiedereinsetzung der Ehre, die Aufhebung einer ungerechtfertigten Ausschließung. Zu ihr können Toleranzleistungen in der Alltagswelt gehören und die Anpassung an die Bedürfnisse behinderter Menschen. Den Rehabilitationsbeitrag der sozialen Umwelt beschreibt schon der britische Reformpsychiater Douglas Bennet.[5] Während für Körperbehinderte die Lebensumwelt barrierefrei gestaltet werden muss, benötigen psychisch Kranke eine soziale Umwelt, die mit abweichendem Verhalten angemessen umgehen kann.

 

3. Die Abgrenzung der sozialen Rolle als „Rehabilitand/in“

Wenn „Rehabilitation“ bedeutet, einen biografischen Einschnitt zu überwinden, dann gehört die berufliche Förderung bei frühkindlichen oder angeborenen Beeinträchtigungen, nicht zur Rehabilitation. Rehabilitation ist vor allem ein Arbeitsfeld der Werkstätten für psychisch erkrankte Menschen. Menschen mit einer geistigen Behinderung stehen beim Eintritt in die Werkstatt typischerweise vor der Aufgabe der primären beruflichen Sozialisation – analog zu einer Lehrlings-Rolle, die sich von einer Rehabilitanden-Rolle grundlegend unterscheidet. Die verschiedenen sozialen Rollen der Klientel können gleichwohl unterschiedlich kombiniert sein.[6]

Überdies kann die soziale Rolle als Rehabilitand/in nicht über ein ganzes Berufsleben in Anspruch genommen werden. Die Praxis zeigt, dass erfolgreiche Reha-Verläufe im Durchschnitt mehr als zwei Jahre benötigen.[7] Die entsprechende soziale Rolle lässt sich zwar für einige Jahre über die zweijährige Phase der „Berufsbildung“ hinaus aufrechterhalten. Und das faktische Bleiberecht entlastet die Rehabilitation in der Werkstatt vom Zeitdruck. Für ihre Kernklientel bieten die Werkstätten spätestens im Arbeitsbereich ein anderes Rollenkonzept an: das des Beschäftigten, in einem arbeitnehmerähnlichen Status. Eine unspezifische „Behinderten-Rolle“ lässt sich hieraus für keine der Zielgruppen konstruieren.

Die Werkstatt-Klientel ist im institutionellen Rahmen in mehrere soziale Rollen einbezogen, die auch eine zeitliche (biographische) Dimension haben.[8] Wie soziale Rollen in Werkstätten gelebt werden, betrifft die Qualität der Reha-Angebote selbst. Und Rollenperformanz gilt als ein typisches Problem der psychisch kranken Klientel.

 

Zuletzt überarbeitet am 13. April 2023
Reinhard Saal

 

Literatur

Alle angegebenen Internet-Links wurden im Januar 2023 geprüft.

BAG WfbM 2021: Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen, Was sind Werkstätten? Berlin 09.08.2021 https://www.bagwfbm.de/page/41

Bendel et al. 2015: Alexander Bendel, Caroline Richter, Frank Richter, Entgelt und Entgeltordnungen in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Etablierung eines wirtschafts- und sozialpolitischen Diskurses. Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung. In: WISO Diskurs Juli 2015, Bonn. http://library.fes.de/pdf-files/wiso/11514.pdf

Bennett 1975: Douglas Bennett, Einige Bemerkungen zur Rehabilitation psychisch und geistig Behinderter in Großbritannien. In: BT-Drucksache 7/4201. Anhang zum Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland - Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung. Bonn: Deutscher Bundestag 1975, S. 797 - 827; http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/07/042/0704201.pdf

BT-Drs. 7/3999: Bundestag Drucksache 7/3999, Grundsätze zur Konzeption der Werkstatt für Behinderte. Bonn 1974, https://dserver.bundestag.de/btd/07/039/0703999.pdf

Saal 2013: Reinhard Saal, Referat zur Werkstätten-Messe 2013: „Rehabilitation in der beruflichen Alltagswelt“. Vortragsmanuskript, Nürnberg 2013 Saal_2013_Rehabilitation_in_der_beruflichen_Alltagswelt.pdf

Saal 2015: Reinhard Saal, Werkstätten und ihr Entgelt in der Kritik. Eine Rezension zum WISO Diskurs Juli 2015 S. 2; Saal_2015_Werkstaetten_und_ihr_Entgelt_in_der_Kritik.htm

Saal 2018: Reinhard Saal, Rehabilitation in der beruflichen Alltagswelt. Manuskript für das Eröffnungsreferat zur Jahrestagung von 53° NORD am 8. und 9. März 2018
http://www.denksaal.de/handicap/referate/53grad-nord_2018/

Thesing 2015: Stefan Thesing, Berufliche Bildung im Zielkonflikt – Umsetzungsbedingungen des gesetzlichen Auftrags der WfbM. Dissertationsschrift im Fach Erziehungswissenschaft, Eingereicht an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. 2015 http://ediss.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2017/8379/pdf/Dissertation.pdf

 

 

Anmerkungen:

[1]

Die Formeln dieser Selbstpräsentation sind dem SGB 9 entnommen: § 57 zum „Berufsbildungsbereich“ und insbesondere § 58 zum „Arbeitsbereich“, Abs. 2, Punkt 2

[2]

Thesing (2015 S. 52) bemerkt zwar in seiner Doktorarbeit, dass „im Werkstättenjargon der gesamte Auftragsbereich der beruflichen Bildung und des pädagogischen Handelns in der WfbM häufig kurz als 'Reha' bezeichnet (wird).“ Den „Doppelauftrag“ hingegen nimmt Thesing für bare Münze, als grundlegenden „Zielkonflikt“, dem er in einer demoskopischen Untersuchung nachgeht – damit aber nur vorgeprägte Denkmuster reproduziert.
Ein weiteres Beispiel, wie Experten der Trennung von Arbeit und Rehabilitation aufsitzen, ist der Versuch von Bendel et al. 2015 Funktionsabgrenzungen der Werkstätten vorzunehmen. Die Autoren definieren die Werkstätten „primär“ als Reha-Einrichtungen (neben ihren Funktionen der „Inklusion und des unternehmerischen Wirtschaftshandelns“), ohne auch nur den Versuch zu machen, Rehabilitationsprozesse für die Werkstatt-Klientel zu fassen oder zu verstehen. Ihre zentrale Diagnose funktionaler Ambivalenzen ist nicht empirisch gestützt (Saal 2015 S. 2).

[3]

Die BAG WfbM (2021) postuliert: „Werkstätten sind keine Erwerbsbetriebe, sondern Einrichtungen zur beruflichen Rehabilitation.“ Eine einfache Befragung von Werkstatt-Beschäftigten im „Arbeitsbereich“ würde vermutlich ganz andere Funktionsbestimmungen ergeben.

[4]

In der Forschung wurde die Effektivität des Supported Employment schon in den 2000er-Jahren auch für den deutschsprachigen Raum bestätigt. Erreicht werden können damit jedoch nur behinderte Menschen, die bereits ein Mindestmaß an sozialer Kompetenz mitbringen (Saal 2018).

[5]

Bennett 1975, in der Psychiatrie-Enquête, insbesondere S. 798

[6]

Geistig behinderte Menschen sind damit nicht von Reha-Angeboten ausgeschlossen. Ich plädiere aber für die Unterscheidung der beruflichen Eingliederung (Inklusion) vom „Rehabilitationsauftrag im Sinne einer Eingliederung in Arbeit und Gesellschaft“ (BT-Drs. 7/3999, S. 7).
Douglas Bennett (1975, S. 797) verweist zusätzlich auf die Unterscheidung von Rehabilitation und Wiedereingliederung. Rehabilitation kann weniger sein als Wiedereingliederung oder umgekehrt.
Eine Abgrenzung der beiden Haupt-Zielgruppen von Werkstätten scheitert an deren Heterogenität. Die Angebotsdifferenzierung ist trotzdem und gerade deshalb sinnvoll und sollte vorangebracht werden. Ich möchte dies an anderer Stelle ausführlicher darlegen.

[7]

In der Reha-Werkstatt Dieburg wurden Arbeitsverträge durchschnittlich erst nach 30 Monaten erreicht (nach Daten der Reha-Werkstatt Dieburg von 1987 bis 2011, Saal 2013. S. 19).

[8]

Das gilt mehr oder weniger auch für andere Institutionen, beispielsweise für Kliniken. Klinik-Klienten sind zuerst Patienten. Um diese Rolle herum gibt es weitere soziale Rollen. Der Klinik-Sozialdienst hat selbst keine Patienten, eher Klienten. Der Diät-Koch bezieht sich vermutlich auf Patientengruppen. Die Medizintechniker sorgen für die angemessene Ausstattung. Der Empfang, die Putzfrau, der Hausmeister usw. haben einen allgemeinen Dienstleistungsbezug, im QM auch als Kundenbezug definiert.