Heinrich Greving, Ulrich Scheibner (Hg.),
Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2021
In ihrer Einleitung kündigen die Herausgeber und einer der Autoren fundamentale Kritik an, die letztlich auf die Auflösung des Systems der Werkstätten abzielt. Ihr Kern-Vorwurf lautet: Werkstätten seien »als Absonderungseinrichtungen konzipiert« (S. 20). Sie stünden rechtswidrig der UN-BRK entgegen.
Die Werkstatt wird in mehreren Beiträgen (vor allem jenen der Herausgeber selbst) dargestellt als heimtückisch und bösartig. Sie verschleiere ihre Absichten – zum Nachteil behinderter Menschen.
Gleichviel wie stark sich die Werkstätten unterscheiden, ihr Personal bekommt einen Tritt, mag es engagiert arbeiten, wie es will.
Als langjähriger Funktionär der BAG WfbM war Scheibner Insider und Greving ist Professor für Heilpädagogik. Es ist erschütternd, wie wenig sie über ihre selbst gewählten Themen zu sagen wissen. Ihre Texte folgen einer Ranküne, die auch nicht vor ehrabschneidenden Falschdarstellungen zurückschreckt – resistent gegen differenzierende Erfahrung.
Der Sammelband zielt nicht auf eine Untersuchung des Institutionentypus „Werkstatt“, wie das Inhaltsverzeichnis erhoffen ließe. Das gilt beispielsweise für den eigenen Beitrag der Herausgeber im Kapitel 3 (S. 65 - 104): »Im Anfang war das Wort«. Sprache, Macht und die »Werkstätten«.
Statt einer Analyse legen Greving und Scheibner in diesem Aufsatz eine Anklageschrift vor, die sich praktisch nicht auf die Auswertung von empirischem Material stützt. Schon im einleitenden Absatz lassen die Autoren ihr „moralisches“ Anliegen durchblicken, mit der Frage, ob denn die WfbM »zu Recht« die Bezeichnung »Werkstatt« trägt. »Zu Recht« ist hier nicht juristisch gemeint, denn die Autoren verweisen selbst auf den Ursprung der Bezeichnung im »deutschen Recht« (S. 65). Ihnen geht es vielmehr um die moralische Verwerflichkeit, nicht nur des Werkstatt-Begriffs, sondern (über den gesamten Text hinweg) um die Bestandteile der Bezeichnung WfbM: »Werkstatt«, »für«, »Mensch«, »Behinderung«.
So kritisieren die Autoren, die von ihnen selbst unterstellte Gleichsetzung mit „Werkstätten“ des Handwerks oder der Industrie, die Reparatur- oder Wartungsaufträge ausführen. Deren positives Image gebühre nicht der WfbM. Dass die Bezeichnung »Werkstatt für behinderte Menschen« ein „wirksamer Werbeslogan“ (S. 66) sei, behaupten die Autoren nur. Sie verleugnen die Vorurteile gegen Behindertenwerkstätten und deren faktisches Negativ-Image und werfen stattdessen den Werkstätten vor, mit ihrem Namen eine angesehene Betriebsorganisation „vorzutäuschen“ (S. 68). Die positiven Assoziationen mit Handwerksbetrieben verdienten sie nicht (66 ff.). In Wahrheit seien die Werkstätten überwiegend Großbetriebe und Kapitalgesellschaften.
Tatsächlich kennt unsere Sprache viele Doppelbedeutungen, die wir trotzdem trennscharf verwenden. Und die Doppelbedeutung des Werkstatt-Begriffs gilt international: Im Englischen nennen sich die Werkstätten „sheltered workshop“, im Spanischen „taller para personas con discapacitadad“. Auf das Vorbild aus den Niederlanden verweisen die Autoren selbst: „beschutte werksplaatsen“.
Das Label „Werkstatt für behinderte Menschen“ wird in einem Prüfungsverfahren von der Agentur für Arbeit auf der Grundlage gesetzlicher Regelungen vergeben. Eine Grundlage hierfür ist die sogenannte „Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung“ (AZAV). Beliebige Einrichtungen können sich nicht eigenmächtig so bezeichnen. Zertifizierte Werkstätten müssen einen Anforderungskatalog erfüllen, der in einem regelmäßigen Turnus geprüft wird. Das Label ist also keine „Firmenbezeichnung“ , wie die Autoren ihren Lesern weis machen wollen, sondern die gesetzliche Bezeichnung für eine sozialstaatliche Institution.
Über die Benennung hinaus ignorieren die Autoren vorhandene Hinweise auf die Sprache im Umfeld der Werkstätten, wie die von Reinhard Peukert in seinem wegweisenden Vortrag zum Fachtag der Reha-Werkstätten 2004.[1]
Peukert findet in Werkstatt-Publikationen einen „pädagogisch-legitimatorischen Jargon“ und bemisst ihn an Anforderungen der salutogenen Gestaltung der beruflichen Alltagswelt von Werkstätten.
Offensichtlich bilden Werkstätten einen eigenen Sprachraum, der sich von der Alltagssprache unterscheidet. Das bemerken die Autoren aber gar nicht. Sie versteigen sich u.a. zu Betrachtungen über die Präposition »für« in der Bezeichnung »Werkstatt für Behinderte Menschen«: »Für« bedeute nämlich das Gleiche wie »gegen«. Medikamente »für« eine Krankheit sollten eigentlich »gegen« sie wirken (71). Mit der Analogie zur Krankheit wird die Werkstatt zum Mittel „gegen“ behinderte Menschen. Kritik ist das nicht. Es ist Beschimpfung.
Werkstatt-Beschäftigte kommen bei Greving und Scheibner nicht als Handelnde in den Blick. Dabei wäre die Handlungskoordination bei eingeschränkter Sprachfähigkeit eines der Schlüsselthemen für die berufliche Inklusion.[2] So wenig, wie sie sich auf die heterogene Klientel der Werkstätten einlassen, analysieren und differenzieren Greving und Scheibner Inklusionsprozesse. Exklusion erscheint nur als moralisches Defizit. Mit Blick auf die sprachtheoretischen Arbeiten von Michael Tomasello[3] wäre anzunehmen, dass gerade die Sprache ein Schlüssel zum Verständnis der beruflichen Alltagswelt von Werkstätten ist. Arbeitswelten sind Lebenswelten. Und Lebenswelten sind immer auch Gestaltungsräume, in denen Menschen mehr sind als bloße Funktionsträger. Die menschliche Handlungskoordination völlig zu ignorieren oder deren Rahmen pauschal abzuwerten, ist eine Form der Diskriminierung. „Welt“ und „Kultur“ – im Buchtitel als Sonderwelt und Subkultur zum zentralen Thema erhoben – kommen in den gesammelten Aufsätzen der Herausgeber nicht vor.
Reinhard Saal, November 2022, ergänzt am 26.02.2025
Nachtrag
Lesenswert ist auch die Buchbesprechung von Dr. Irmgard Plößl und Dr. Ute Schottmüller-Einwag vom 19.05.2023,
www.socialnet.de/
Anmerkungen:
Reinhard Peukert, Manuskript zum Vortrag auf dem Fachtag der Hessischen Reha-Werkstätten, Wiesbaden 2004 (↓ 10.2022) www.denksaal.de/
Hierzu (zu den Sozialisationsprozessen und den generellen sozial-integrativen Prozessen in der Arbeitswelt) mein Aufsatz: Sonderwelten und Übergänge. Anmerkungen zu einem Schlüsselbegriff der Werkstattkritik. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Band 118, Juni 2022, Heft 2, pp 350 - 363; www.denksaal.de/
Tomasello, Michael, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Übersetzung aus dem Englischen von J. Schröder. Suhrkamp Verlag, 2011(¹)