Eine Suizidankündigung

Anmerkungen zu einer Episode aus Goytisolos Autobiographie:
Juan Goytisolo, Die Häutung der Schlange. Ein Leben im Exil.
Fischer Verlag, Frankfurt 1997

Juan Goytisolo berichtet in seiner Autobiographie über die Ankündigung eines Selbstmordes durch den befreundeten französischen Schriftsteller Jean Genet und die folgenden Ereignisse.

S. 172 ff: Juan Goytisolo beschreibt Genet nach dem Tod eines Freundes zunächst in einer psychischen Ausnahmesituation: in einer „Mystik der Hingabe [...] zwischen Überschwänglichkeit und Schuldgefühl.“

Jean Genet inszeniert die Suizidankündigung. Er bittet Goytisolo in sein Hotelzimmer. Dort eröffnet er ihm in feierlichem Ton und festlich gekleidet, dass er Selbstmord begehen will. Zu dieser Absichtserklärung verlangt er Stillschweigen. (Ob vor oder nach der Ankündigung, bleibt offen). Genet erklärt außerdem, dass er bereits alle seine unveröffentlichten Manuskripte vernichtet habe und überreicht Goytisolo ein Testament, das Goytisolo als Testamentsvollstrecker und Erben (unter anderen) vorsieht.

„Obgleich die Todesbesessenheit groß ist, spüre ich doch intuitiv, dass sein innerer Widerstand ebenso groß ist. (...) Der Entschluss Genets ist natürlich absurd.“, schreibt Goytisolo. Die „inneren Widerstände“ werden nicht näher beschrieben.

Goytisolo berät sich mit seiner Partnerin, Monique (ebenfalls Schriftstellerin). Beide kommen zu dem Entschluss Sartre um Rat zu fragen. „Nur er (...) besitzt die notwendige Intelligenz, um überzeugend auf Genet einzuwirken.“

Kommentar: Die Einwirkungsmöglichkeit der „Intelligenz“, die des Außenstehenden auf die des Selbstmordkandidaten, werden überschätzt. Goytisolo selbst benennt die Suspendierung der Intelligenz: als Absurdität des Entschlusses und als Todesbesessenheit. Gerade dieser letzte Begriff geht in eine ganz andere Richtung: Mein erster Gedanke wäre, bei einem Psychiater oder einem Analytiker Rat und Hilfe zu suchen, nicht bei einem Philosophen.

 
S. 174: Sartre meint, „dass sich Genets Gewissensbisse weniger durch seine Trauer als durch seine fehlende Trauer erklären lassen. Und seine Manuskripte, fügt er noch hinzu, hat er nicht verbrannt, um sich zu bestrafen, sondern weil sie seinen hohen Ansprüchen einfach nicht genügten.“

Kommentar: Sartres Ferndiagnose, Gewissensbisse wegen fehlender Trauer, scheint mir leichtfertig und nicht plausibel. Diese Hypothese erklärt eben nicht das Fehlen von Trauer, nicht den Andrang der „Todesbesessenheit“ und nicht die vollzogene partielle literarische Selbstauslöschung. Sartres Beurteilung der Qualität der vernichteten Manuskripte ist rein spekulativ. Oder kennt sie Sartre? Sartre redet die Situation schön, die er nicht selbst erfahren hat.
Ich denke umgekehrt, dass Genet viel zu intelligent und sensibel war, einen Selbstmord anzukündigen, den er niemals ausführen würde.

 
S. 175: Goytisolo bemerkt im Nachhinein, dass ihm „die Rolle des Zeugen zugedacht“ ist.

Kommentar: Genau dies wäre m.E. ein Einstieg gewesen, um mit Genet zu reden. Das heißt an erster Stelle, sich diese Zumutung zu verbitten, sie als Beziehungsanforderung zu verstehen und so zu thematisieren und zurechtzurücken. Als „Erbe“ hätte Goytisolo quasi-verwandtschaftliche Autorität.

 
S.  175: „Eines Tages“ stellt Goytisolo sein „Zartgefühl“ zurück und entschließt sich, Genet provokant zum Schreiben aufzufordern. Daraufhin bricht Genet mit Goytisolo. Später (nach ca. 2 Jahren) erfährt Goytisolo „von seinen beiden Selbstmordversuchen“. Über die Qualität der Selbstmordversuche wird nichts ausgesagt.

Kommentar: Offenbar ließ sich Genets Identität als Schriftsteller nicht mit einer ungeduldigen Provokation reparieren. Genet hätte therapeutische Hilfe benötigt.

Reinhard Saal, 25.11.2000

 

 

 

Der Text entstand als Diskussionsvorlage für einen Arbeitskreis Darmstädter Soziologen.
 

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