„Ethnologie der Arbeitswelt“

"Berufliche Alltagswelten" werden seit knapp 100 Jahren erforscht, zunächst von Soziologen (Elton Mayo), später auch von Ethnologen. Die Ergebnisse haben eine grundlegende Bedeutung für unsere Arbeit.

 

Anfang des 20. Jahrhundert begannen die damals führenden amerikanischen Unternehmen mit dem Aufbau eines "Scientific Management" (also einer wissenschaftlichen Betriebsführung). Einen Baustein hierfür hatte Frederick Taylor etabliert. Taylor steht für das Konzept, Arbeitsabläufe in kleine Schritte zu zerlegen und zu optimieren, bis in die Bewegung hinein. Kritisiert wurde das von Gewerkschaften als "Wissensenteignung" und als Entwertung der Facharbeit. Die Arbeitskräfte stellte man sich je einzeln nur als ausführende Individuen vor.

Diese Vorstellung von "Arbeit" änderte sich radikal mit einer Serie von Studien: den "Hawthorne Studies".[1] Hawthorne war der Standort eines riesigen Industriekomplexes in der Nähe von Chicago, mit den Ausmaßen einer Kleinstadt (über 40.000 Mitarbeiter). Hier ließ Western Electric die Wirkung der Beleuchtung auf die Arbeitsleistung wissenschaftlich testen - 1924. Das Ergebnis war überraschend: In allen experimentellen Varianten stieg die Arbeitsleistung.

Schlussfolgerung: Im Experiment muss ein Störfaktor wirksam gewesen sein. Als solchen identifizierte man den "menschlichen Faktor", genauer, die Aufmerksamkeit, die die Forscher den Arbeitern zuwendeten. Die soziale Zuwendung hatte eine größere Auswirkung auf die Produktivität als die Veränderung der objektiven Arbeitsbedingungen.

Diese Entdeckung führte dazu, dass man sich im "Scientific Management" den sogenannten "Human Relations" zuwendete, den menschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz.

Für unsere Arbeit halte ich folgendes fest:

Das was wir als "Arbeitswelt" bezeichnen, hat eine doppelte Organisationsstruktur: eine formelle und eine informelle. Die informelle Organisation einer Firma reagiert zwar auf Einflüsse. Sie ist aber auch widerständig. Sie verfügt über eigene Regeln, Hierarchien, Belohnungs- und Bestrafungsmöglichkeiten.
Arbeitswelten sind "Lebenswelten".[2]

Die informelle Organisation einer Firma setzt dem "Scientific Management" Grenzen. Beispielsweise kann auf der informellen Ebene Leistungsdruck (der von der Betriebsleitung kommt) abgewehrt werden.[3]

Die Akteure der beruflichen Alltagswelt haben also einen eigenen Entscheidungsspielraum, ein informelles Mitbestimmungsrecht. Wenn man den Arbeitswelten ein solches Recht einräumt, dann gilt das auch für den Einsatz unserer Klienten. Beurteilungen der Einsatzfähigkeit aufgrund fachärztlicher Gutachten oder nach Testverfahren in der Werkstatt bewähren sich nicht immer in der Alltagswelt. Was, in welchem Ausmaß ein Problem ist, das entscheiden letztlich die Akteure der Arbeitswelt selbst. Sie sind es, die die Inklusion leisten - oder nicht.

Daraus folgt eine doppelte "Methodologie" der Inklusion: die der funktionalen Beziehung und die der Solidarität, der Diagnosen von "Störungen" und der Akzeptanz von "Abweichungen", der fachlichen und der sozialen Organisation.

Es kommt ein weiterer Punkt hinzu: Die formelle Organisation funktioniert nur mangelhaft, wenn sie nicht informell gedeckt ist. Das gilt vor allem in Ausnahmesituationen: z.B., wenn Arbeitsprobleme erkannt, gemeldet und gelöst, Fehler korrigiert, Mitarbeiter angelernt oder angeleitet werden. Der formelle Arbeitsprozess muss angepasst werden an individuelle Fähigkeiten, krankheits- oder urlaubsbedingte Ausfälle und andere spezielle Arbeitssituationen.

Die informelle Organisation ist ein Produktivfaktor, nicht nur weil sie motivierend wirkt, sondern weil sie komplementäre Kooperation gewährleistet.

Eine Umschreibung für die Aussetzung der komplementären informellen Kooperation und für die absichtliche Störung des Arbeitsablaufes ist der Ausdruck "Dienst nach Vorschrift".

Die "soziale Integration" der Arbeitswelt ist eine Grundlage funktionierender Arbeitsteilung.

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[1]

Im Internet gibt es umfangreiches Material zu den Hawthorne Studies - sogar Originalaufnahmen vom Hawthorne-Werk aus den 1920er Jahren, mit Bezugnahme auf die Hawthorne-Experimente: http://www.youtube.com/watch?v=W7RHjwmVGhs (Hares Neme, AT&T Archive)

[2]

Der Begriff der Lebenswelt bezeichnet in der Soziologie die Gesamtheit der kulturellen Voraussetzungen des Handelns. Habermas' (1981) kommunikationstheoretischer Lebensweltbegriff scheint mir für unsere Arbeit am fruchtbarsten zu sein. (Habermas 1981, Bd.2, S. 182ff)

[3]

Die informelle Sanktionierung von Akkordbrechern ist ein Beispiel.

Weitere Ergebnisse:

Die Stellung des Einzelnen innerhalb der informellen Organisation hängt erheblich von persönlichen Eigenschaften ab. Wichtig sind extern begründete Beziehungen: Bekanntschaft, Freundschaft und Verwandtschaft (wichtig auch für die Coachs; rs).
Soziale Zuordnungen prägen auch die informelle Organisation (Sozialstatus, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht).
Jeder Betrieb entwickelt eigene informelle Welt, die fragmentiert sein kann, sich auflösen und neu bilden kann. Erfahrungen in einer dieser Welten lassen sich also nicht unbedingt auf andere übertragen.

Auch die Einstellung neuer Mitarbeiter erfolgt üblicherweise nicht nur anhand formeller Qualifikationen. Wenn nicht schon "Beziehungen" vorhanden sind, spielt auch die "Chemie" eine Rolle (also die informelle soziale Resonanz).